Sacri Monti. 2009 

Sacri Monti bedeutet Heilige Berge. So werden neun Pilgerstaetten in Norditalien genannt, die im spaeten 16. und 17. Jahrhundert auf Bergen und an Seen errichtet wurden. In den weitlaeufigen Kapellenanlagen wird die Lebensgeschichte Jesu und anderer Heiliger mit symbolischer und spiritueller Bedeutung dargestellt. Terrakottafiguren und illusionistische Malereien verschmelzen zu Bildern mit bisweilen skurriler Schoenheit. Bertram Kober eroeffnet mit neuen Blickwinkeln und  Lichtstimmungen diese besonderen Zeugnisse fuer die Gegenwart.

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Was zeigen uns die Szenen der Heiligen Berge in Varese, Varallo, Domodossola und Ghiffa? Die Geschichte aller Geschichten ist die Heilsgeschichte, die in der Lebens- und Sterbensgeschichte Jesu von Nazareth kumuliert. Damit verbunden oder davon abgeleitet die wunderbaren Lebensgeschichten großer Heiliger, der Gottesmutter, des heiligen Franziskus von Assisi (Orta). Die Passionserzaehlungen bilden den Kern und den Hoehepunkt der Evangelien. Sie moeglichst anruehrend vor unsere Augen zu stellen heißt, sie zu vergegenwaertigen. Daher sind die Figuren lebensgroß, die Gesichter sehen aus wie die der Zeitgenossen, wenn sie erregt, von Schmerz oder Trauer verzerrt, vielleicht von innerer Versammlung oder Bewegung gepraegt sind. Monstroese, kropfhalsige Folterknechte, sadistische Peiniger misshandeln den Christus, der sein schweres Kreuz traegt. Seine Hand umklammert den Querbalken, sein Blick hat die grauenhafte Wirklichkeit der Szene schon fast verlassen. Mit sicherem Blick hat Bertram Kober das Arrangement der Blicke eingefangen. Die leichte UEberbelichtung sorgt dafuer, dass der dreidimensionale Vordergrund und das Fresko im Hintergrund bruchlos ineinander gehen, so wie es sein soll. Zeit ist vergangen, der Heiligenschein des Christus liegt am Boden, die Figuren beduerften dringend einer Restauration und dennoch blickt die vera icon, das „wahre Bild“ vom Schweißtuch der Veronika uns, die Betrachter an. Es handelt sich um ein Wunder. Das Wunder, das die Zeiten verschraenkt. Historische Legenden im Lichte negierter und aufgehobener Zeit, das heißt Ewigkeit.

Was schneidet Bertram Kober aus den Szenen heraus? Blicke haben es ihm offenbar angetan. Hinter dem Vorhang, der alles Weitere verhuellt und verbirgt, blickt der Kopf eines Alten heraus. Aus dem laedierten Fresko des Hintergrunds schaut uns ein junger Kleriker im Spitzenrochette an. Sein ausgestreckter Arm zeigt dorthin, wohin wir schauen sollen. Dies alles aber bildet nur den Hintergrund fuer die vollplastische Gestalt im Vordergrund. Ebenfalls ein junger Kleriker. Er hat sein Rochette mit einer Hand leicht gerafft, und sein ganzer Koerper ist im Kontrapost gebogen und gespannt. Wohin er schaut, wissen wir nicht. Es ist wiederum der Blick, der uns an diesem Gesicht fasziniert. Wie bei manchen Impressionisten treffen sich die Blicke nicht. Die Szene gewinnt ihre Spannung durch die sich kreuzenden Bahnen der Blicke, durch die Zielpunkte der Augen, die auch auf uns Betrachter magnetisch wirken. Wir erblicken den Blick und das, wohin er blickt. Diese Ziele enthaelt uns Bertram Kober vor. Dieses Kalkuel macht seine Bilder zeitgenoessisch. Es verstaerkt noch einmal die Zumutungen der Wunder und steigert die Latenz. Manches erkennen wir wieder, vieles wird uns vorenthalten. Wer die Passionsgeschichte nicht kennt, sieht einen Koerper, den ein Mann von der Leiter herab nach unten sinken laesst in die aufgespannten Arme einer Gestalt, die mit erschuetterten, weit aufgerissenen Augen und geoeffnetem Mund diese Last empfangen muss. Ein anderes Gesicht, eine Hand, ragt in das Bild hinein. Harte Lichtkontraste. Die Juenger geraten vor der Kiste des leeren Grabs in Verzueckung. Die gerungenen Gebetshaende, die nach oben gereckten Arme, der himmelnde Blick, sogar der wunderbar verinnerlichte Blick des Juengers im Vordergrund, von dem wir nicht sagen koennen, ob er nach innen oder in die Kiste gerichtet ist, das folgt alles durchaus einer gelaeufigen Choreographie. Bertram Kober laesst uns in die Kiste schauen, wo eine Sparstromlampe und anderes modernes Geruempel darueber aufklaert, in welcher Zeit wir leben. Dennoch wird in der Brechung durch den Blick der Kamera die Sache so ergreifend, wie sie einst gemeint war.

… Wenn sich ein Photokuenstler Kunstwerke vornimmt, also Kunst ueber Kunst legt, begegnen wir in unserem Fall zwei Zeitepochen. Ploetzlich wird das 21. Jahrhundert synchron mit dem Zeitalter des Barock. Bertram Kober macht oft genug diese Meta-Ebene sichtbar, indem er Zwischenwaende einzieht – nein nicht Waende, sondern Gitter, eine durchbrochene zweite Ebene. Einerseits bremst sie den Blick und nimmt ihm eine vielleicht naive Unmittelbarkeit, andererseits thematisiert sie ihn. Der Raum bekommt Tiefe. Wir lernen mit dem lenkenden Auge der Kamera neu sehen. Das kennen wir aus Filmen von Rainer Werner Fassbinder, der minutenlang die Kamera durch Glastueren oder Spitzenvorhaenge schickt und gerade seine staerksten Szenen auf diese Weise mystifiziert. Gitter sind auch an Ort und Stelle ein Teil der Inszenierung. Wenn sich ein Photokuenstler unserer Tage einem Hoehepunkt mimetischer Kunst zuwendet und wenn es ihm gelingt, das Geheimnis dieser Bildnerei buchstaeblich zum Vorschein zu bringen, dann koennen Bilder von packender Intensitaet entstehen. Dafuer hat Bertram Kober den Beweis angetreten.

Prof. Eckhard Nordhofen
Auszug aus: Sacri Monti In. Bertram Kober – Sacri Monti. Kerber Verlag. 2009. Seiten 99 - 101

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